Deutschland benötigt professionellere Insolvenzgerichte: Diese Meinung vertreten knapp 90 Prozent der befragten Experten in der jetzt von der Unternehmensberatung McKinsey & Company und der Kanzlei Noerr vorgelegten Analyse zum Insolvenzrecht: „InsO Studie 2018“. Sechs Jahre nach der Reform bestätigen die Experten dem deutschen Insolvenzrecht insgesamt zwar eine höhere Attraktivität im Vergleich zur früheren Rechtslage. Die Ergebnisse der Studie decken aber zugleich Schwächen auf und können zum Anlass genommen werden, durch weitere Verbesserungen den Restrukturierungsstandort Deutschland im internationalen Wettbewerb zu stärken.

Um herauszufinden, wie gut sich das reformierte Insolvenzrecht in der Praxis bewährt, haben McKinsey und Noerr Sanierungs- und Insolvenzexperten befragt – darunter Anwälte, Richter und Rechtspfleger, Insolvenzverwalter, Gläubiger und Mitarbeiter von Banken. Rund 350 Experten haben geantwortet. Hintergrund: 2012 wurde das deutsche Insolvenzrecht modernisiert durch das „Gesetz zur Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG)“. Damit sollten die Restrukturierungschancen insolvenzbedrohter Unternehmen verbessert sowie die internationale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Insolvenzrechts erhöht werden. Denn gerade bei grenzüberschreitenden Insolvenzen haben die Unternehmen oft die Wahl, in welchem Land sie ihren Fall juristisch ansiedeln. Die Befragung greift zudem weitere ausgewählte Themen des Insolvenzrechts auf und geht damit über die ESUG-Änderungen hinaus.

Wichtige Ergebnisse der Studie:

•          Professionalisierung der Insolvenzgerichte: 89 Prozent der Befragten sprechen sich für mindestens eine Halbierung der Anzahl an Insolvenzgerichten aus.

•          Vorinsolvenzliches Verfahren: Eine deutliche Mehrheit von 70 Prozent hält die Einführung eines solchen Verfahrens in Deutschland für „sinnvoll“ oder sogar „erforderlich“.

•          Höhere Haftung in der Eigenverwaltung: Nach Mehrheit der Befragten sollten eigenverwaltende Organe wie ein Insolvenzverwalter haften. Zudem sollten Eigenverwaltungsverfahren nur für zuverlässige Schuldner möglich sein.

ESUG-Reform wird überwiegend positiv beurteilt

Ein Großteil der Befragten bestätigt, dass die Änderungen des ESUG das deutsche Insolvenzrecht attraktiver gemacht haben. Immerhin 47 Prozent sagen, dass dies „voll und ganz“ bzw. „größtenteils“ zutrifft, weitere 46 Prozent stimmen dieser Aussage „eher zu“. Nach überwiegender Meinung der Befragten (70 Prozent) haben die Neuerungen der Insolvenzordnung einen Mentalitätswechsel herbeigeführt: Eine Insolvenz wird jetzt auch als Chance verstanden.

Gleichzeitig deckt die Befragung Schwächen auf, die sowohl das deutsche Insolvenzrecht selbst betreffen, als auch strukturelle Rahmenbedingungen. „Die Studie bestätigt den Eindruck der Überforderung mancher Amtsgerichte bei Unternehmensinsolvenzen“, sagt der für die Studie bei Noerr federführende Partner Dr. Thomas Hoffmann. 89 Prozent der Befragten stimmen der These zu, dass die Insolvenzgerichte in Deutschland professionalisiert werden müssen. 38 Prozent halten dies für „sinnvoll“, 50 Prozent sogar für „erforderlich“.

Weniger Gerichte, mehr Richter für komplexe Verfahren

„Weniger Gerichte, aber mehr Richter für die Betreuung von komplexen Verfahren wünschen sich die befragten Experten“, fasst Klaus Kremers, für die Studie bei McKinsey zuständiger Partner, das Ergebnis der Befragung zusammen. 60 Prozent halten mindestens eine Halbierung der Anzahl der Insolvenzgerichte für erforderlich. Komplexe Verfahren sollten nach Meinung von 53 Prozent aller Befragten von mehr als einem Richter betreut werden – dieser Aussage stimmen sogar 61 Prozent der Richter zu.

Vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren fehlt weiterhin

Kritisch fällt auch der Blick auf das Instrumentarium des deutschen Insolvenzrechts aus. Ein Großteil der Befragten – 70 Prozent – plädiert dafür, ein vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren in Deutschland einzuführen, „in dem ein angenommener Restrukturierungsplan auf eine Gläubigergruppe begrenzt werden kann“.

„Diese Frage berührt einen strukturellen Nachteil des Sanierungsstandorts Deutschland“, betont Klaus Kremers, verantwortlicher Partner von McKinsey. „Hierzulande ist es im Kern gesunden Unternehmen nicht möglich, präventiv Finanzverbindlichkeiten zu restrukturieren, um erst gar nicht in die Gefahr einer Krise zu geraten.“ Vorinsolvenzliche Sanierungsmöglichkeiten eröffnen jedoch zahlreiche ausländische Rechtsordnungen, die in der Vergangenheit auch immer wieder von deutschen Unternehmen genutzt wurden.

Druck kommt in dieser Frage aus Brüssel: Bereits vor einem Jahr hat die EU-Kommission einen Richtlinien-Entwurf für ein präventives Sanierungsverfahren vorgelegt. „Mit dem Erlass ist aber nicht vor Ende dieses Jahres zu rechnen“, meint Noerr-Partner Thomas Hoffmann.

Hoffmann und Kremers regen daher an, dass der deutsche Gesetzgeber noch in diesem Jahr aktiv wird: „Mit einer Umsetzung der Richtlinie noch vor Erlass könnte der Sanierungsstandort Deutschland punkten.“

Eigenverwaltung wird kritisch gesehen

Bei der anfänglich hochgelobten Eigenverwaltung gibt es nach Meinung fast aller Studienteilnehmer erhebliche Probleme. Mit dem ESUG wurden die Hürden für dieses Instrument zur Sanierung insolventer Unternehmen erheblich gesenkt. Dabei behält der Schuldner die Verfügungsgewalt über die Insolvenzmasse, er unterliegt lediglich der Aufsicht durch einen Sachwalter. 87 Prozent der Befragten unterstützen die These der Studie, dass eigenverwaltende Organe wie Insolvenzverwalter haften sollten, und 88 Prozent befürworten eine Beschränkung der Eigenverwaltung: Diese sollte nur für solche Schuldner möglich sein, die ihre Zuverlässigkeit nach objektiven Kriterien unter Beweis gestellt haben. „Diese Zahlen sprechen für sich“, sagt Klaus Kremers. „Auch an dieser Stelle sollte der Gesetzgeber aktiv werden und das sinnvolle Sanierungsinstrument der Eigenverwaltung stärken.“

Nach dem Brexit: Wettbewerb um den neuen Restrukturierungs-Hub

„Die in der Studie aufgedeckten Verbesserungspotentiale könnten in der vom Gesetzgeber angekündigten Evaluierung des ESUG Ansatzpunkte sein, um die Restrukturierung von Unternehmen attraktiver zu machen“, kommentiert Hoffmann die Ergebnisse. Die Zeit dafür ist nach Ansicht von Kremers auch aus einem weiteren Grund günstig: „Der Brexit wird den ehemals hochattraktiven Sanierungsstandort Großbritannien im Wettbewerb zurückwerfen – die Karten werden neu gemischt.“ Zugleich warnen die Autoren der Studie: „Welches Land der neue Restrukturierungs-Hub wird, ist nicht ausgemacht. Deutschland steht in einem scharfen Wettbewerb, etwa mit den Niederlanden oder Singapur.“

Die vollständige Studie steht im Download als PDF-Kopie zur Verfügung:

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